Halle (Saale): Anfang Mai 2020 – fünfeinhalb Monate nach dem rechtsterroristischen Anschlag – werden zwei 21- und 19-jährige Geflüchtete an einer Haltestelle rassistisch beleidigt und so massiv angegriffen, dass einer der beiden lebensgefährlich verletzt wird. Die Polizei ermittelte wegen versuchten Totschlags. Ende 2021 wird der jugendliche Haupttäter zu einer Haftstrafe verurteilt, die anderen beiden kommen Anfang 2023 mit Bewährungsstrafen davon. Für die Betroffenen wiegen nicht nur die Angriffsfolgen, sondern auch die zahlreichen Versäumnisse und Wahrnehmungsdefizite von Polizei und Justiz schwer.

von Lilli Neuhaus

Manchmal ist es nur glücklichen Umständen geschuldet, dass Betroffene entgrenzter rassistischer Gewalt die Angriffe überleben: In der Nacht zum 1. Mai 2020 werden der 21-jährige Ahmad T. und sein 19-jähriger Freund Feras J. (Namen geändert) an einer Straßenbahnhaltestelle von drei Unbekannten rassistisch beleidigt, bis vor ihren Bus verfolgt und unter „Geht zurück in Euer Land!“- und „Kanaken“-Rufen zum Rauskommen aufgefordert.

In der Hoffnung, die jungen Männer zu stoppen, steigen die beiden aus. Mit den Worten „Bruder, sag sowas nicht!“ tippt Ferhat J. einen von ihnen leicht an die Wange. Der Angriff folgt prompt: Während Feras J. sich nach einem heftigen Tritt in den Bus retten kann, wird Ahmad T. bewusstlos geschlagen und mehrfach getreten. Dann schlägt einer der Angreifer seinen Kopf mehrfach heftig gegen die Bus und tritt ihm schließlich mit voller Wucht noch mindestens drei Mal gegen seinen Kopf. Schließlich flüchten die Angreifer. Ahmad T. erleidet u.a. eine Augenhöhlenboden- und eine mehrfache Nasenbeinfraktur. Zwei mal muss er am Kopf notoperiert werden. 20 Titanschrauben und 6 Titanplatten sind nötig, um die Knochen an seinem Schädel wieder zu fixieren. Ferhat J. wird nur leicht am Knie verletzt.

Ausblendung des rassistischen Tatmotivs und eklatante Ermittlungsversäumnisse

Zwar ermittelt die Polizei von Beginn an wegen versuchten Totschlags, stellt die Tat aber öffentlich nur als „tätliche Auseinandersetzung“ zwischen Jugendgruppen dar – obwohl Feras J. den Beamten noch am Tatort von den rassistischen Beleidigungen berichtet hatte. Bis zum Statistikschluss Ende Januar 2021 wird die Gewalttat von der Polizei auch nicht als politisch rechts motiviert ans Landeskriminalamt gemeldet – und bleibt so auch in der öffentlichen Statistik des Innenministeriums zu 2020 unberücksichtigt.

Da eine der fünf jungen Frauen aus der Gruppe der Angreifer noch am selben Tag zur Polizei geht und alle Beteiligten namentlich benennt, kennen die Beamten schon am 1. Mai die Identität der drei Angreifer. Noch am Abend bitten die Ermittler den Bereitschaftsstaatsanwalt um Beantragung eines Durchsuchungsbeschlusses für die Wohnräume der Beschuldigten, um deren Schuhe als Beweismittel zu sichern. Doch das passiert nicht. Auch ein Antrag auf Erlass eines Haftbefehls stellt der Bereitschaftsstaatsanwalt nicht. Als der ermittelnde Polizeibeamte den zuständigen Staatsanwalt einige Wochen später erneut auf den Durchsuchungsbeschluss anspricht, rät ihm dieser, die Verdächtigen zu fragen, ob sie die Schuhe freiwillig herausgeben wollen. Das tut der Beamte auch, doch die Schuhe bekommt er so freilich nicht.

Die Nebenklagevertreter*innen der beiden Betroffenen erfahren von diesen eklatanten Versäumnissen erst wesentlich später. Erst nach mehrfacher Nachfrage zu ihrem Antrag auf Akteneinsicht wird der Rechtsanwältin von Ahmad T. schließlich im August 2020 mitgeteilt, dass die Ermittlungsakte bereits im Juni auf dem Weg zur Staatsanwaltschaft verloren gegangen sei. Es dauert bis Mitte September, bis die Akte von der Polizei weitestgehend rekonstruiert werden kann.

Als die Staatsanwaltschaft im November 2020 die Zulassung ihrer Anklage beim Landgericht Halle beantragt, werden weitere Defizite deutlich: Die zuständige Richterin sendet die Akte zurück und mahnt weitere Ermittlungen an. Dem anfangs mit dem Fall befassten Beamten wird der Fall entzogen, es übernimmt ein Kollege. Dieser befragt nun auch die übrigen Zeuginnen, die am 1. Mai 2020 mit den Angreifern unterwegs waren – über 9 Monate nach der Tat.

Aus einem werden zwei Prozesse – zusätzliche Belastung für die Betroffenen

Im Herbst 2021, eineinhalb Jahre nach dem Angriff, beginnt der Prozess gegen die zur Tatzeit 17-, 19- und 21-jährigen Angeklagten am Landgericht Halle. Ahmad T. und Feras J. sind als Nebenkläger zugelassen. Von rassistischen Beleidigungen ist auch in der Anklage keine Rede. Überraschend entscheidet die Vorsitzende Richterin Sabine Staron am zweiten Verhandlungstag , den Prozess gegen die beiden älteren Angeklagten abzutrennen. Begründet wird diese Entscheidung mit den COVID-19-Schutzmaßnahmen und damit einhergehenden, pausenbedingten Verzögerungen sowie der angespannten Terminlage der Kammer. Weil der einzig verbleibende Angeklagte zum Tatzeitpunkt minderjährig war, muss die Verhandlung ab diesem Zeitpunkt nichtöffentlich erfolgen.

Ende 2021 wird er wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung sowie einer weiteren gefährlichen Körperverletzung zu sechs Jahren Jugendstrafe verurteilt und die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Die rassistische Motivation für die Tat wird strafverschärfend berücksichtigt. Als erst ein Jahr später, im Oktober 2022, die Hauptverhandlung gegen Nico G. und Florian S. am Landgericht Halle beginnt, ist das Urteil gegen den Haupttäter bereits rechtskräftig. Der zur Tatzeit 21-jährige Nico G. ist Bundeswehrsoldat, mittlerweile im Rang eines Hauptgefreiten. Eine bereits rechtskräftige Verurteilung wegen eines anderen Körperverletzungsdelikts hatte für seine Laufbahn bisher keine Konsequenzen.

Der damals 19-jährige Florian S., der sich von dem rechten Szeneanwalt Heiko Urbanzyk aus Nordrhein-Westfalen vertreten lässt, ist erfahrener Boxer und hat Verbindungen in die organisierte rechte Szene, unter anderem zur sog. Identitären Bewegung. Das kommt im Prozess einzig durch die Nebenklagevertreter*innen der Betroffenen zur Sprache. Einen Beweisantrag zu einer weiteren politisch rechts motivierten Tat lehnt das Gericht kurz vor Prozessende ab. So hatte Florian S. im August 2021 einem jungen Mann nach „Scheiß-Zecken“- und „Schwuchteln“-Rufen das Nasenbein gebrochen. Diese und eine weitere Körperverletzung von November 2021, bei der S. dem Geschädigten mit dem Knie zwei Schneidezähne abgebrochen hatte, war vom Amtsgericht Halle im Oktober 2022 lediglich mit einer geringen Geldauflage geahndet worden.

Angeklagt sind S. und G. nur wegen gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung. Die Tritte gegen den Kopf, an denen Ahmed T. fast gestorben wäre, waren von Beginn an nur dem jugendlichen Angeklagten angelastet worden. Nico G. wird lediglich der Tritt gegen Feras J., Florian S. keine eigene Körperverletzungshandlung vorgeworfen. Im Prozess äußert die Nebenklage immer wieder Zweifel, ob diese Zuordnung dem tatsächlichen Ablauf entspricht – und weist auf die zahlreichen Versäumnisse der Ermittlungsbehörden hin.

„Jetzt bin ich nicht mehr so wie vorher.“

Aufgrund der Abtrennung des Verfahrens sind Ahmat T. und Feras J. gezwungen, ihre Aussagen über den traumatischen Angriff nun noch einmal zu wiederholen. Als „unsäglich und eine Belastung“, beschreibt die Anwältin von Ahmad T., Franziska Nedelmann, dies zu Beginn der Verhandlung. Ahmad T. wird als erster Zeuge gehört. Der heute 23-Jährige ist eine schmale Person, keine 1,70 m groß. Ahmad T. spricht lebhaft und schnell, den vom Gericht bestellten Dolmetscher braucht er nicht. Mit beeindruckender Sachlichkeit schildert er dem Gericht, wie es ihm nach dem Angriff ergangen ist.

„Die ersten paar Tage konnte ich nicht mal aus dem Bett raus“, sagt er über die Zeit nach den Operationen. Drei Wochen lang bleibt er in der Klinik. „Als ich aus dem Krankenhaus kam, war Laufen schwierig. Mein ganzer Körper hat wehgetan.“ Nach seiner Entlassung kommt er in eine Reha, wo er mit einer Gehhilfe wieder zu laufen übt. Bis heute spürt Ahmad T. die Folgen seiner Verletzungen. Er sieht Doppelbilder, wenn er nach oben schaut, sein Gesicht ist druckempfindlich und fühlt sich taub an, er hat Kopfschmerzen und ein Fremdkörpergefühl im Auge. Behandelnde Ärzte ordnen diese Beschwerden als bleibende Schäden ein. Außerdem belastet der Angriff Ahmad T. bis heute psychisch. „Am Anfang habe ich, wenn ich nachts rausgegangen bin und Schritte gehört habe gedacht, dass mir wer hinterherläuft“, erzählt er. Zur Zeit bin ich spätestens 21 Uhr zuhause.“ Seit 2020 ist er in psychotherapeutischer Behandlung, Diagnose: Posttraumatische Belastungsstörung.

Im Frühjahr 2020 war Ahmad in der 11. Klasse, er hatte gute Noten, war Klassensprecher und wollte Abitur machen. Nach dem Angriff konnte er ein Jahr lang nicht zur Schule gehen. Im ersten Prozess 2021 berichtete er, dass er zwar wieder die Schule besucht, aber große Schwierigkeiten hat, sich zu konzentrieren. Damals war es noch sein Plan, die 12. Klasse abzuschließen, um das Fachabitur zu bekommen. Ein Jahr später erzählt er, dass er diesen Plan aufgeben musste.

Ahmad T. berichtet im Gericht von seinen Konzentrationsschwierigkeiten, die ihn seit dem Angriff begleiten. Das große Problem war „Multitasking, also zuhören, mitschreiben und auch noch mitdenken“, erklärt er. Kurz vor Ende der 12. Klasse bricht er die Schule ab. Mittlerweile macht Ahmad T. eine Ausbildung zum Fachinformatiker. Das sei einfacher für ihn, erzählt er, weil er die Lehrmaterialien aus der Berufsschule schriftlich bekommt und nicht mehr gleichzeitig zuhören und mitschreiben muss.

„Die ersten Tage danach hatte ich furchtbare Angst.“

Feras J. wird als zweiter Zeuge gehört. Er ist mittlerweile 24 Jahre alt. Wie Ahmad T. ist auch Feras J. eine kleine und schmale Person. Im Zeugenstand wirkt er gefasst, er spricht leise und ruhig. Auf die Frage des Richters, ob der Angriff Folgen für ihn hatte, nickt er nur. „Die ersten zehn Tage habe ich furchtbare Angst gehabt, die Wohnung zu verlassen.“, sagt er. „Danach habe ich mich auf Gott verlassen. Ich habe gedacht: Warum soll ich mich einsperren?“ Er erzählt, dass ihm vor allem seine Entscheidung umzuziehen geholfen hat, „weg aus dieser Stadt.“

Feras J. kommt nur für den Tag seiner Aussage nach Halle. Er wohnt jetzt in einer Stadt in einem anderen Bundesland. Mit seinem Anwalt hat er besprochen, dass der ihn über den Ausgang des Verfahrens nur per Mail informiert, damit er entscheiden kann, ob er diese öffnet oder nicht. Alles, was mit dem Angriff zu tun hat, ist für ihn eine immense Belastung. Nach seiner Aussage steht Feras J. vor dem Landgericht Halle. Er setzt sich seine Mütze auf und lächelt erschöpft. In dieser Stadt wohnt er nicht mehr. Er sieht erleichtert aus.

Unzureichende Ermittlungen verhindern vollständige Aufklärung

Nach den Aussagen von mehr als 20 weiteren Zeug*innen beantragt Staatsanwalt Weber am 13. Verhandlungstag, die Angeklagten wegen Mittäterschaft zu mehrjährigen Haftstrafen ohne Bewährung zu verurteilen. Das Gericht befindet jedoch am 19. Januar 2023, dass Florian S. nur psychische Beihilfe zur Tat geleistet hat und verurteilt ihn wegen Beihilfe zu einer gefährlichen Körperverletzung – unter Einbezug zweier anderer Körperverletzungsdelikte – zu einer Jugendstrafe von 1 Jahr und 6 Monaten Haft. Nico G. wird wegen des Tritts gegen Feras J. wegen gefährlicher Körperverletzung zu einem Jahr Haft verurteilt. Beide Strafen werden für drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt.

Sowohl im Plädoyer der Staatsanwaltschaft als auch in der mündlichen Urteilsbegründung des Gerichts zeigt sich ein mangelndes Verständnis von Rassismus. So weist Staatsanwalt Hendrik Weber zwar die Notwehr-Argumentation von Nico G. zurück und benennt sie als „klassisches ausländerfeindliches Stereotyp“. Im selben Atemzug ergänzt er aber: „Klar, es gibt aus dem arabischen Raum Angeklagte, wir kennen solche Fälle, die können sehr schnell mit Messern umgehen.“ Daran kann der Verteidiger von G., Dr. Mario Müller aus Leipzig, nahtlos anknüpfen, indem er in seinem Plädoyer das rassistische Narrativ vom gewalttätigen Syrer mit Zahlen aus der Kriminalstatistik zu untermauern sucht.

Richter Peter zur Nieden wiederum spricht zwar von einer „ausländerfeindlichen“ Motivation für den Angriff, mutmaßt aber, dass die Täter sich von Ahmads raschem Ausstieg aus der Straßenbahn provoziert gefühlt haben könnten. Nebenklagevertreter Elberling stellt klar, dass es für einen solchen Angriff keine Provokation vonseiten der Betroffenen braucht und es kein „zufällig sich hochkochender Disput war, sondern schlicht ein rassistischer Angriff.“ Dies sei in der Urteilsbegründung „nicht ausreichend aufgetaucht“.

Das Urteil hält Nebenklagevertreter Elberling angesichts der Beweislage ansonsten für „wahrscheinlich sogar relativ angemessen“ und kritisiert erneut, dass der Fehler in den vorangegangen unterlassenen Ermittlungsschritten lag, die eine vollständige Aufklärung verhindert haben. Rechtsanwältin Nedelmann hatte zuvor betont, dass das Desinteresse und die Untätigkeit der Ermittlungsbehörden für Ahmad T. und Feras J. bis heute nur sehr schwer zu begreifen sind. Das gesamte Verfahren sende „ein verheerendes Signal an all diejenige, die Menschen aus rassistischen Motiven angreifen“, so die Nebenklagevertreterin.

Ahmad T. und Feras J. bleiben dem Gericht auch am Tag der Urteilsverkündung fern. Ahmad T.s Anwältin findet für seine Entscheidung deutliche Worte: „Für ihn ist jeder Tag, an dem er die Angeklagten nicht sehen muss, ein guter und jeder Tag, an dem er seine Ausbildung fortsetzen kann, ein noch besserer Tag.“