Statement unserer Kollegin Rachel Spicker in der gestrigen Pressekonferenz des VBRG

Einfluss des Terroranschlags der Hamas auf den 4. Jahrestag des Halle-Anschlags und auf die Folgen des Anschlags

Vor 10 Tagen, am 9. Oktober 2023, fand der vierte Jahrestag des Anschlags von Halle und Wiedersdorf an Yom Kippur 5780, dem 9. Oktober 2019, in Halle statt. Vor vier Jahren hatte ein schwerbewaffneter Rechtsterrorist versucht, die Synagoge zu stürmen und die dort 51 bzw. 52 anwesenden Personen zu ermorden. Als ihm dies nicht gelang erschoss er die Passantin Jana L., fuhr zum nahegelegenen Schnellrestaurant „KiezDöner“ und ermordete dort Kevin Schwarze. Auf seiner Flucht fuhr er Aftax I. an und verletzte Dagmar M. und Jens Z. in Wiedersdorf schwer.


Vorweg sei gesagt, dass wir insbesondere in der Jüdischen Community zwei Gedenktage an den Anschlag begehen, einen an Yom Kippur, ein Feiertag, der nach dem jüdischen Kalender jedes Jahr auf ein anderes bürgerliches Datum fällt und das Gedenken am 9. Oktober selbst, nach dem bürgerlichen Kalender.


Der Terrorangriff der Hamas wurde -wie der Anschlag in Halle auch- während eines jüdischen Feiertages, dem Feiertag Simchat Torah und am 50. Jahrestag des Yom Kippur Krieges, verübt und macht damit die Kontinuität des mörderischen, weltweiten antisemitischen Terrors deutlich. Jüdische Menschen, Institutionen und Organisationen an jüdischen Feiertagen anzugreifen hat eine jahrhundertelange Tradition – und das sowohl in der Diaspora als auch in Israel selbst.


Der 4. Jahrestag des Halle-Anschlags wurde durch die anhaltenden, grausamen und kaum in Worte zu fassenden Nachrichten aus Israel überschattet. Während des 9. Oktober hielten die Kämpfe weiter an, die Anzahl der Todesopfer, der Verletzten sowie der Vermissten und der nach Gaza verschleppten Menschen stieg kontinuierlich an. Einige jüdische Überlebende leben selbst in Israel und/oder haben Familie und Freundinnen dort.

Die jüdischen Überlebenden und die jüdische Gemeinde Halle erhielten am 9. Oktober sowohl von der Öffentlichkeit als auch von angereisten Initiativen, in denen sich Angehörige Ermordeter sowie Überlebende weiterer rassistischer Anschläge aus Städten wie Hanau, München, Berlin, Dortmund und Kassel organisieren, viel Solidarität und Unterstützung. Gleichzeitig machte Max Privorozki, der Gemeindevorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Halle beim Gedenken an der Synagoge deutlich, dass dieser Tag vor allem dem Gedenken an Jana L. und Kevin Schwarze gewidmet ist, er aber mit seinen Gedanken auch in Israel ist. Das Gedenken fand den Tag über verteilt gemeinsam mit jüdischen und nicht-jüdische Überlebenden sowie mit dem Vater von Kevin Schwarze, Karsten Lissau, an der Synagoge, im HFC-Fußballstadion und am TEKİEZ statt.

Auch vier Jahre nach dem Anschlag sind viele Menschen, die diesen Tag erlebt und überlebt haben mit den Folgen konfrontiert: Manche verloren ihre Arbeit oder ihr Stipendium, waren gezwungen, ihr Studium oder ihre Dissertation zu verlängern, wenn eine Fertigstellung überhaupt möglich war, ihr Studium abbrechen und neue Ausbildungswege finden oder konnten ihre Verdienstausfälle bis heute nicht geltend machen. Wiederum andere haben mehrfach ihre Arbeit verloren oder sind bis heute arbeitsunfähig, müssen immer noch auf die Erstattung ihrer Therapiekosten warten oder haben bis heute keine adäquate therapeutische und gesundheitliche Versorgung gefunden. Eine Vielzahl von Anträgen müssen weiterhin ausgefüllt werden, gerade im Rahmen der Opferentschädigung müssen sich viele wiederholt unangenehmen Begutachtungen und Fragen aussetzen. Überlebende und Betroffene werden dabei immer wieder zu Bittstellerinnen gemacht und müssen ihren Unterstützungsbedarf gegenüber den Behörden immer wieder neu nachweisen und beweisen. Einige waren gezwungen nicht nur ihren ehemaligen Wohnort, sondern auch Deutschland zu verlassen und woanders neu zu beginnen.


Menschen, die diesen Tag erlebt und überlebt haben, beschreiben, dass ihr Leben in ein „vor“ und „nach Halle“ geteilt ist. Seit dem 7. Oktober 2023 gibt es ein weiteres „vor“ und „nach“.


Seit dem Pogrom der Hamas auf die israelische Gesellschaft stehen wir mit vielen jüdischen Überlebenden täglich in Kontakt. Für viele ist das eine erneute, retraumatisierende Erfahrung, die nicht nur das Trauma vom Überleben des Halle-Anschlags reaktiviert, sondern sich in kollektive, transgenerationale Traumata von Verfolgung, Vernichtung und Überleben einschreibt. In diesem Zusammenhang sagte mir Mollie Sharfman, eine Überlebende des Halle-Anschlags:

„Gerade in dem Moment, in dem man glaubt, aufatmen zu können und irgendwie durch die Jahrestage zu kommen, erleben wir eine kollektive Tragödie, die Angst auf so vielen Ebenen auslöst.“


Auswirkungen der antisemitischen Vorfälle hier in Deutschland

Eine kollektive Angst, und damit komme ich zum zweiten Punkt meines Redebeitrags, die sich auf das individuelle, alltägliche Leben hier in Deutschland auswirkt. Einige berichten, dass sie ihre Wohnungen nicht mehr verlassen möchten, dass sie ihre jüdischen Symbole in der Öffentlichkeit verstecken, momentan nicht arbeitsfähig sind und unter massiven Schlafstörungen leiden. Manche trauen sich aktuell nicht, jüdische Einrichtungen und Synagogen zu besuchen. Erfahrungsberichte zeigen auch, dass sie sich von Social Media Plattformen zurückziehen, weil sie die grausamen Bilder und Videos des Pogroms in Israel und der verschleppten Geiseln nicht mehr ertragen und um antisemitischen Angriffen und Projektionen zu entgehen. Sie ziehen sich zurück, um sich von der antisemitischen und rassistischen Propaganda und Desinformation zu distanzieren, die andere Menschen aus ihren Freund*innen und Bekanntenkreisen in ihre Timeline oder persönliche Nachrichten spülen.

Gestern, am Mittwochmorgen, wurde bekannt, dass es einen versuchten Brandanschlag auf die Synagoge der Kahal Adass Jisroel Gemeinde in Berlin-Mitte gab. Überlebende des Halle-Anschlags waren oder sind Mitglied dieser Gemeinde, wie zum Beispiel die Rabbinerin und Geschäftsführerin von Hillel Deutschland e.V., Rebecca Blady. In einem öffentlichen Kommentar beschreibt sie, wie wichtig ihr diese Gemeinde ist, weil sie die insbesondere für religiöse Jüdinnen*Juden so wichtige Infrastruktur bereitstellt und damit jüdisches Leben und jüdischen Alltag ermöglicht. Sie sagt:


„Ich bin ein religiöser Mensch, und ich kann euch sagen, dass es nicht leicht ist, eine religiöse Infrastruktur aufrechtzuerhalten, vor allem wenn man sich aufgrund seines Lebensrhythmus als Minderheit fühlt. Jemand wollte eindeutig, dass unser Lebensrhythmus zerstört wird. Das ist es, womit wir jetzt leben. Das ist die Realität.“


Handlungsfähigkeit von Überlebenden und Betroffenen weiterhin zu ermöglichen und wiederherstellen


Dennoch, und damit komme ich zu meinem dritten und letzten Punkt, ist es mir ein Anliegen zu betonen, dass alle Menschen, die den Anschlag vor vier Jahren erlebt und überlebt haben, viel mehr als Betroffene und Überlebende dieser Tat sind. Sie sind zum Beispiel Rabbiner*innen, Therapeut*innen, Naturwissenschaftler*innen, Fachangestellte, politische Bildner*innen, Community-Organizer*innen, Doktorand*innen oder in Ausbildung. Sie prägen die jüdischen Communities, in denen sie leben und aktiv sind, auf vielfältige und verschiedene Arten und Weisen. Viele von ihnen setzen sich communityübergreifend für ein selbstbestimmtes Erinnern und Gedenken ein, sei es beim Festival of Resilience, in der Soligruppe 9. Oktober und bei den Aktivitäten rund um den TEKİEZ in Halle, dem Raum für Erinnerung und Solidarität, der aus dem zweiten Anschlagsort, dem ehemaligen KiezDöner, entstanden ist. Diese Aktivitäten sind wichtige Erfahrungen von Selbstermächtigung und eigener Handlungsfähigkeit, die sich positiv auf die Verarbeitung des Erlebten auswirken können.


Auch jetzt sind viele von ihnen aktiv in der Unterstützung der jüdischen Communities hier in Berlin und ganz Deutschland, aber auch vor Ort in Israel selbst. Sie organisieren beispielsweise Unterkünfte für in Deutschland gestrandete israelische Familien, helfen bei der Organisation und Verteilung von Spendengeldern oder bieten Gesprächskreise für Communitymitglieder an. Auch sorgen sie dafür, dass jüdisches Leben und der jüdische Alltag in Deutschland weiterhin existiert und umgesetzt werden kann.


Gestern Abend habe ich nur wenige Minuten nach einem erneuten Raketenalarm in Tel Aviv mit Ezra Waxman telefoniert, der in Tel Aviv lebt und arbeitet. Ezra Waxman war zum Zeitpunkt des Halle-Anschlags in der Synagoge und war 2020 Nebenkläger im Prozess gegen den Attentäter. Nach dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober ist er bei der Initiative „The Guard for Jewish-Arab Partnership“ zu Deutsch „Schutz für jüdisch-arabische Partner*innenschaft“ aktiv, einer Gruppe bestehend aus Jüdinnen*Juden, Christ*innen und Muslim*innen aus der Nachbarschaft, die verhindern wollen, dass sich die Gewalt lokal weiterträgt und bei potentiellen Konflikten deeskalierend wirken wollen. Zusätzlich organisieren sie Unterstützung und Solidarität für vom Angriff betroffene Familien, die teilweise auch neu in ihre Nachbarschaft ziehen bzw. dorthin evakuiert werden mussten.


Die selbstorganisierte Solidarität, Gemeinschaft und Unterstützung sowohl in der Diaspora als auch in Israel hat für viele eine hohe Selbstwirksamkeit und ermöglicht es in Krisenzeiten wie diesen handlungsfähig zu bleiben und dem gängigen vor allem in Deutschland vorherrschenden Bild von Jüdinnen*Juden als reine Opfer zu widersprechen.


Dazu gehört für viele auch, sich weiterhin in community-übergreifenden Strukturen zu organisieren, und der dominanzgesellschaftlichen Divide und Conquer Strategie, nämlich Minderheiten gegeneinander auszuspielen und dadurch in ihren Interessen, in ihrer Deutungshoheit und Handlungsfähigkeit gegenüber der Mehrheitsgesellschaft zu entkräften, zu widersprechen und sich dem entgegenzustellen. Die aktuellen öffentlichen Debatten und bisherigen politischen Interventionen verschärfen und reproduzieren u.a. antisemitische und rassistische Verhältnisse.

Unterstützungsstrukturen wie die spezialisierten Opferberatungsstellen, die im VBRG zusammengeschlossen sind, aber auch die auf antisemitische Vorfälle spezialisierten Beratungsstellen von OFEK und die Recherche und Informationsstelle Antisemitismus leisten einen wichtigen Beitrag dazu, die eben geschilderte Handlungsfähigkeit von Betroffenen und Überlebenden zu ermöglichen, wiederherzustellen und aufrechtzuerhalten.


Die Melde- und Beratungsstellen arbeiten seit Monaten über ihre Belastungsgrenzen hinaus und können das aktuelle Vorfälle und Beratungsaufkommen nicht ausreichend abdecken und bearbeiten. Neben für die Betroffenen so wichtige Solidaritätsaktionen und Unterstützungsleistungen aus der Zivilgesellschaft braucht es daher dringend einen Ausbau der Beratungsstrukturen und eine langfristige Sicherheit der Weiterfinanzierung.


Unsere Kollegin Rachel Spicker unterstützt als Projektkoordinatorin und Beraterin bei der Mobilen Opferberatung seit vier Jahren Überlebende und Betroffene des antisemitischen, rassistischen und antifeministischen Anschlags an Yom Kippur 5780, dem 9. Oktober 2019, in Halle (Saale) und Wiedersdorf. Auf der gestrigen gemeinsamen Pressekonferenz unseres Bundesverbands VBRG e.V. und von RIAS e.V. vor dem Hintergrund der eskalierenden antisemitischen Bedrohungen, Angriffe und Gewalt in Deutschland und der hohen Zustimmungswerte für die rechtsextreme AfD hat sie dargelegt, wie der Terrorangriff das Gedenken am Jahrestag des Halle-Anschlags beeinflusst und die Folgen für Überlebende verschärft hat, Auswirkungen der aktuellen antisemitischen Vorfälle in Deutschland für Überlebenden beleuchtet und einen Blick auf bisher angewandte Umgangsstrategien geworfen. Die dazugehörige Presseerklärung ist hier nachzulesen.