Mobile Opferberatung (Salzwedel, Magdeburg, Halle), 04.04.2023

+++ Alarmierender Anstieg rassistischer Gewalt in Sachsen-Anhalt +++ Keine Entwarnung bei Gewalt gegen politische Gegnerinnen +++ Verstärkte Mobilisierung von rechts verschärft LGBTIQ-Feindlichkeit +++ Zunahme antisemitischer Gewalt +++ Vielzahl der Angriffe im öffentlichen Raum sendet verheerendes Signal

156 politisch rechts bzw. vorurteilsmotivierte Gewalttaten mit 227 direkt Betroffenen hat die Mobile Opferberatung für das Jahr 2022 in Sachsen-Anhalt registriert. Bei 85 Prozent der Taten handelt es sich um Körperverletzungsdelikte (133). Davon sind 41 Prozent gefährliche Körperverletzungen (55). Damit hält sich die Anzahl der Gewalttaten auf dem besorgniserregend hohen Niveau der Vorjahre1: Auch in 2022 wurden mindestens alle zwei bis drei Tage Menschen in Sachsen-Anhalt aus rassistischen, rechten, antisemitischen und/oder LGBTIQ*-feindlichen Motiven angegriffen und verletzt. Dabei ist von einer hohen Anzahl nicht angezeigter und auch der Mobilen Opferberatung nicht bekannt gewordener politisch rechts motivierten Gewalttaten auszugehen, die bislang in keiner Statistik erscheinen.

 

Alarmierender Anstieg rassistischer Gewalt

Besonders alarmierend für 2022 ist der massive Anstieg rassistisch motivierter Gewalt: War Rassismus in 2021 bei fast jedem zweiten dokumentierten Angriff das Haupttatmotiv (47%), hat sich der Anteil rassistischer Gewalttaten in 2022 auf zwei Drittel erhöht (2022: 65%). Von den insgesamt 102 rassistisch motivierten Angriffen in 2022 waren 145 Menschen direkt betroffen (2021: 98). Unter den Angegriffenen befanden sich auch 22 Kinder unter 14 Jahren und 11 Jugendliche unter 18 Jahren (2021: 17 Kinder, 11 Jugendliche): Etwa die zwei 12- und 13-jährigen Mädchen mit Migrationsgeschichte, die am 20. Juni 2022 bei Verlassen eines Supermarktes in Zeitz (Burgenlandkreis) von einer Unbekannten rassistisch beleidigt und von ihrem Begleiter ins Gesicht geschlagen wurden. Oder das 13-jährige Mädchen aus der Ukraine, dem am 12. November 2022 beim Aussteigen aus einer Straßenbahn in Halle (Saale) ein Bein gestellt und es dann von zwei Jugendlichen rassistisch beleidigt, bedroht und körperlich attackiert wurde.

 

Dieser Angriff auf die Schülerin ist einer von insgesamt neun Gewalttaten im Kontext des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine, welche die Mobile Opferberatung für 2022 als antislawistisch motiviert erfasst hat. Davon waren 11 Menschen direkt betroffen. Acht weitere Personen waren als Mitangegriffene2 indirekt betroffen: Am 10. März 2022 in Halle (Saale) etwa gingen zwei 42- und 65-jährige Ukrainerinnen auf einen extrem rechten Mann zu. Dieser hatte am Rande einer Kundgebung für Frieden für die Ukraine provokativ eine Russlandfahne geschwenkt. Als die ältere der beiden ihn aufforderte, die Fahne herunterzunehmen, wurde sie von ihm schmerzhaft gegen die Brust gestoßen. Nur einen Tag später, am 11. März 2022, wurde ein 50-jähriger Russe, der gerade mit seiner ukrainischen Frau und ihrem 5-jährigen Sohn in Halle (Saale) unterwegs war, von einem Unbekannten für den Angriffskrieg Russlands mitverantwortlich gemacht, bedroht und mit Fäusten geschlagen. Und am 20. Oktober 2022 wurden in Bitterfeld (Bitterfeld-Wolfen) zwei 38- und 14-jährige Ukrainerinnen aus rassistischen Motiven in einem Geschäft geschlagen und verletzt.

 

„Der Anstieg rassistischer Gewalt ist alarmierend. Die Angriffe verunsichern als Botschaftstaten ganze Communities – und bilden dabei nur die Spitze des Eisbergs alltäglicher Diskriminierungserfahrungen. Rassismus wird in seinen individuellen und strukturellen Erscheinungsformen noch allzu oft von Teilen der Dominanzgesellschaft fortgeschrieben, ignoriert oder verharmlost.”

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Keine Entwarnung bei Gewalt gegen politische Gegner*innen

33 politisch rechts motivierte Angriffe in 2022 richteten sich gegen Menschen, die aufgrund ihres Äußeren, ihres zivilgesellschaftlichen bzw. politischen Engagements oder ihres Einschreitens gegen rechts gezielt als politische Gegnerinnen attackiert wurden. 56 Menschen waren davon direkt betroffen. So wie Teilnehmerinnen einer Kundgebung gegen den Auftritt eines extrem rechten Kabarettisten am 17. Juni 2022 in Halle (Saale), die ein gezielter Bierflaschenwurf zum Glück verfehlte. Oder die zwei 27- und 28-Jährigen, die am 6. August 2022 in Naumburg (Burgenlandkreis) geschlagen wurden, weil sie das lautstarke Skandieren von Naziparolen nicht dulden wollten.

 

Bei 11 dieser Angriffe mit insgesamt 22 direkt Betroffenen gab es einen sogenannten Corona-Bezug [3] (2021: 21 mit 25 direkt Betroffenen): Bei dem schweren Landfriedensbruch am 14. Februar 2022 in Halberstadt (Harz) zum Beispiel zogen hunderte Teilnehmerinnen einer Demonstration gegen die Corona-Schutzmaßnahmen u.a. mit Trommeln und Trillerpfeifen vor das Privathaus des Oberbürgermeisters, angeführt von der extrem rechten Kameradschaft „Harzrevolte“. Dort zündeten sie Bengalos und riefen Parolen. Oder bei dem gezielten Angriff auf eine Gruppe von Beobachterinnen einer Demonstration der verschwörungsideologischen Bewegung Halle am 17. Januar 2022 in Halle (Saale). Sie wurden von einer Gruppe überwiegend Vermummter gejagt und mit Schlägen und Tritten attackiert. In sieben dieser Fälle waren Journalist*innen das Ziel.

 

Gewalt gegen politische Gegnerinnen bildet weiterhin das zweithäufigste Tatmotiv in 2022, auch wenn die Anzahl sich gegenüber 2021 fast halbiert hat (2021: 62 Angriffe mit 90 direkt Betroffenen). Allerdings:

 

„Coronaleugnerinnen, extrem rechte und weitere demokratiefeindliche Akteur*innen haben rund um ihre Versammlungen in Sachsen-Anhalt ein bedrohliches Klima geschaffen. Jeglicher Protest gegen solche Versammlungen wird mit unverhohlener Aggressivität und Gewaltandrohungen beantwortet. Es gefährdet die Demokratie, wenn engagierte Menschen aus Selbstschutz auf offenen Widerspruch verzichten oder solche Versammlungen nicht mehr journalistisch begleiten.“

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Verstärkte Mobilisierung von rechts verschärft LGBTIQ*-Feindlichkeit

Weiterhin besorgniserregend ist die körperliche Gewalt gegen Menschen, deren (vermeintliche) geschlechtliche Identität und/oder sexuelle Orientierung nicht der zweigeschlechtlichen, cis-geschlechtlichen [4] und/oder heterosexuellen Norm entsprechen. Für 2022 hat die Mobile Opferberatung in Sachsen-Anhalt 11 LGBTIQ*-feindliche Gewalttaten mit 14 direkt Betroffenen registriert (2021: 10 Angriffe, 11 direkt Betroffene). Etwa den Angriff auf einen 26-jährigen Studenten, der am 22. September 2022 im Zug und am Bahnhof in Merseburg von zwei Männern frauen- und schwulenfeindlich beleidigt, mit der Faust ins Gesicht geschlagen und einer Bierflasche beworfen wurde. Oder der Angriff auf eine 18-jährige CSD-Teilnehmerin am 10. September 2022 in Halle (Saale), die von einer Frau aus einer extrem rechten Spontankundgebung gegen den CSD heraus abgefilmt und geschlagen wurde. Erst eine Woche zuvor war der trans Mann Malte C. in Folge von Schlägen gegen ihn auf dem CSD in Münster (Nordrhein-Westfalen) gestorben.

Von Queerfeindlichkeit Betroffene berichten für 2022 zudem über eine spürbare Zunahme von Anfeindungen, Diffamierungen und Bedrohungen – sowohl im digitalen als auch im analogen Raum:

 

„Erkämpfte Erfolge wie das erwartete Selbstbestimmungsgesetz gehen mit einer verstärkten Mobilisierung gegen queere Communities einher, die auch die Hemmschwelle für Gewaltausübung senkt. Auch wenn weiterhin von einem hohen Dunkelfeld ausgegangen werden muss, steigt die Anzeigebereitschaft bei Betroffenen queerfeindlicher Gewalt. Dies ist neben den Bemühungen queerer Communities um eine Erfassung in der polizeilichen Statistik politisch motivierter Gewalt auch der Arbeit der Ansprechperson LSBTTI bei der Polizei des Landes Sachsen-Anhalt zu verdanken.“

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Zunahme antisemitischer Gewalt

Antisemitismus war in 2022 bei neun Angriffen zentrales Tatmotiv, womit sich die Zahl im Vergleich zum Vorjahr nahezu verdoppelt hat (2021: 5). Diesen Taten wurden 11 direkt Betroffene zugeordnet.5 Wie am 5. Mai 2022, als ein Paar mit seinem PKW auf der Landstraße Nähe Holleben (Saalekreis) von einem Transporter bedrängt, ihm der Weg versperrt und dann von dem Trio unter antisemitischen Beleidigungen auf das Autodach geschlagen wurde. Besonders folgenschwer war die immer weiter eskalierende antisemitische Gewalt gegen einen Mann in Brachwitz (Saalekreis). Innerhalb von nur fünf Wochen musste der 52-Jährige vier Angriffe in seinem direkten Wohnumfeld durchleben. Im August und September 2022 wurde er von seinem Nachbarn aus antisemitischer Motivation heraus massiv bedroht und schließlich Brandanschläge auf sein Auto und ein Nebengebäude auf seinem Grundstück verübt.

 

„Für Juden_Jüdinnen in Sachsen-Anhalt stellt Antisemitismus in all seinen Formen weiterhin eine allgegenwärtige Gefahr dar.“

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So wurden 2022 neben den verübten Körperverletzungen, Bedrohungen und Brandstiftungen in Sachsen-Anhalt u.a. im Mai 2022 in Köthen jüdische Gräber geschändet oder bei sogenannten Spaziergängen und „Montagsdemonstrationen” antisemitische Verschwörungsmythen verbreitet und die Shoa verharmlost.

 

“Umso wichtiger sind die Etablierung der Meldestelle Antisemitismus RIAS Sachsen-Anhalt und die Unterstützung bei antisemitischen Vorfällen durch OFEK Sachsen-Anhalt.“

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Vielzahl der Angriffe im öffentlichen Raum sendet verheerendes Signal

Der überwiegende Teil der dokumentierten Angriffe wurde auch in 2022 im öffentlichen Raum verübt (91 ≙ 58 %), also auf öffentlichen Straßen und Plätzen (66, davon 18 im Umfeld von Demonstrationen) sowie in öffentlichen Verkehrsmitteln (17) und an Bahnhöfen und Haltestellen (8). So wie am 5. Juni 2022 in Magdeburg, als ein 29-jähriger Geflüchteter aus Syrien in einer Straßenbahn von drei Unbekannten rassistisch beleidigt und mit einem Kopfstoß attackiert, beim Aussteigen von dem Trio verfolgt, gewürgt und zu Boden gestoßen wurde. Oder am 10. September in Weißenfels (Burgenlandkreis), wo eine 17-jährige Jugendliche und ihr 14-jähriger Begleiter plötzlich auf der Straße aus einem geöffneten Wohnungsfenster heraus rassistisch beleidigt und mit Flaschen beworfen wurden.

 

„Das Signal an potenziell Betroffene, dass sie sich nirgends im öffentlichen Raum sicher fühlen sollen und es sie oder ihre Liebsten jederzeit selbst treffen kann, ist verheerend. Jeder abschätzige Blick, jede Beleidigung und jede strukturelle Ungleichbehandlung im Alltag verweist auf eine in der Gesellschaft weit verbreitete, feindselige Stimmung, die sich jederzeit auch in körperlicher Gewalt manifestieren kann.“

 

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Bedenklich sind auch die 21 dokumentierten Angriffe in 2022, die im direkten Wohnumfeld der Betroffenen verübt wurden. Denn die Folgen für die Betroffenen sind hier oftmals besonders gravierend, weil die wichtige Schutz- und Rückzugsfunktion, die der eigene Wohnraum für Menschen hat, damit entfällt. 11 Gewalttaten wurden in und an Einkaufszentren und Supermärkten begangen, sechs weitere in Lokalen, beispielsweise in und an Imbissen und Diskotheken. So wurde eine syrische Familie am 26. November 2022 in einem Einkaufszentrum in Magdeburg von einem unbekannten Paar bespuckt, rassistisch beleidigt und körperlich attackiert. Am 2. Januar 2022 wurde ein 31-Jähriger, der vor einem Imbiss in Halle (Saale) verbal gegen das laut-starke Rufen einer Nazi-Parole interveniert hatte, von dem Täter mit der Faust ins Gesicht geschlagen.

 

Fazit

Rechte, rassistische, antisemitische und LGBTIQ*-feindliche Gewalt in Sachsen-Anhalt hat sich auf einem besorgniserregend hohen Niveau stabilisiert. Dabei ist die Anzahl der dokumentierten Angriffe nur ein Indikator für das tatsächliche Ausmaß vorurteilsmotivierter Gewalt und Diskriminierung in Sachsen-Anhalt.

 

„Umso wichtiger ist es, sich mit Rassismus, Antisemitismus, Queerfeindlichkeit und weiteren Ideologien der Ungleichwertigkeit sowie deren Verschränkungen fundiert auseinanderzusetzen und auf allen Ebenen vehement entgegenzutreten. Hier ist jede*r Einzelne gefordert, sich solidarisch an die Seite der Betroffenen zu stellen und für eine offene und heterogene Gesellschaft aktiv zu werden, in der alle ohne Angst verschieden sein können.“

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(Interaktive) Grafiken


                                       

       


                                       

       


                                       

       

Über uns:

Die Mobile Opferberatung in Trägerschaft von Miteinander – Netzwerk für Demokratie und Weltoffenheit in Sachsen-Anhalt e.V. unterstützt seit 2001 als spezialisierte Fachberatungsstelle Betroffene rechter, rassistischer, antisemitischer, antiromaistischer, LGBTIQ-feindlicher, sozial-darwinistischer und antifeministischer Gewalt, ihr soziales Umfeld sowie Zeuginnen in Sachsen-Anhalt: parteilich, kostenlos, vertraulich, auf Wunsch auch anonym und unabhängig von einer Anzeigenerstattung. Die Arbeit wird aus dem Bundesprogramm „Demokratie leben!“ und mit Mitteln des Ministeriums für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Gleichstellung des Landes Sachsen-Anhalt finanziert.

 

Die Einordnung von Angriffen in unsere jährlichen Statistiken als rechts, rassistisch und antisemitisch motiviert erfolgt anhand gemeinsamer Qualitätskriterien des Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt e.V. (VBRG), die sich für eine Vergleichbarkeit auch an der Definition des Bundeskriminalamts zu „Politisch motivierter Kriminalität – rechts“ orientieren.

 

In unsere Jahresbilanz 2022 wurden auch Meldungen folgender Kooperationspartnerinnen aufgenommen:

 

Ausführliche Darstellungen zu den in der Jahresbilanz aufgeführten sowie weiteren Angriffen aus 2022 sind in unserer Chronik nachlesbar.

 

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[1] So hatte die Mobile Opferberatung für 2021 bis April 2022 ebenfalls 156 Angriffe mit 213 direkt Betroffenen dokumentiert. Durch Nachmeldungen ist diese Zahl mittlerweile auf 161 Gewalttaten mit 223 direkt Betroffenen angestiegen.

[2] „Mitangegriffene“ bezeichnet unmittelbar beteiligte Tatzeug*innen, die mitgemeint und deshalb ebenfalls von den Angriffen betroffen waren, aber nicht im rechtlichen Sinne geschädigt wurden.

[3] Alle für 2022 dokumentierten Angriffe mit Corona-Bezug wurden aus Versammlungen gegen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie heraus verübt.

[4] Cis bezeichnet Menschen, die sich mit dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde, identifizieren.

[5] Bei mehreren Angriffen auf dieselbe Person im Erhebungszeitraum verringert sich die tatsächliche Anzahl der direkt Betroffenen aufgrund der für die statistische Erhebung notwendigen Zuordnung zu einem Angriff entsprechend.