Am heutigen Donnerstag, dem 25. Januar 2024, beginnt ein erneuter Gerichtsprozess gegen den Attentäter des antisemitischen, rassistischen und misogynen Anschlags von Halle und Wiedersdorf an Yom Kippur 5780, dem 9. Oktober 2019, bei dem er Jana L. und Kevin Schwarze brutal ermordete. Dieses Mal muss er sich wegen Geiselnahme und Verstoß gegen das Waffengesetz vor dem Landgericht Stendal verantworten. Am 12. Dezember 2022 nahm der Attentäter im Hochsicherheitsgefängnis der JVA Burg mittels einer im Gefängnis selbst gebauten Waffe zwei JVA-Beamte als Geiseln und zwang diese, mehere Sicherheitsschleusen zu öffnen, um seine Flucht zu ermöglichen. Auch Wochen und Monate zuvor war er bereits wegen unkooperativen Verhaltens und anderer Vergehen aufgefallen.

Die Perspektiven von Menschen ernst zu nehmen, die seine Gewalt erlebt und überlebt haben, bedeutet, ihre Expertisen und Analysen zu hören, zu verstehen und die notwendigen Konsequenzen daraus folgen zu lassen. Das möchten wir in der Auseinandersetzung um den bevorstehenden Gerichtsprozess erneut bekräftigen.

Die Kontinuität des Behördenversagens, die auch im Zusammenhang mit strukturellem Rassismus und Antisemitismus steht, muss in diesem Gerichtsprozess thematisiert und aufgearbeitet werden. Gleichzeitig ist davon auszugehen, dass der Attentäter erneut versuchen wird, das Verfahren als Bühne für seine antisemitischen, rassistischen, misogynen, antimuslimischen und verschwörungsideologischen Weltanschauungen zu nutzen. Angehörige der Ermordeten und Überlebende des Anschlags von Halle und Wiedersdorf haben als Nebenklägerinnen zu Beginn des Verfahrens im Sommer 2020 dazu aufgerufen, den Namen des Attentäters nicht zu nennen und sein Bild nicht zu zeigen. Auch die Nebenklägerin Talya Feldman hat in ihrem damaligen Abschlussplädoyer im Prozess gegen den Attentäter die Öffentlichkeit und Medienvertreterinnen dazu aufgefordert, ihn nicht zu zitieren, um seinen menschenfeindlichen Ideologien keinen Raum zu geben und das Narrativ des isolierten Einzeltäters nicht weiter zu verbreiten.

Im Mai 2020, wenige Wochen bevor das Verfahren im Juli 2020 gegen ihn eröffnet wurde, konnte er in der JVA Halle eine 3,40 m hohe Mauer überwinden und in ein anderes Gebäude gelangen. Möglich wurde das u.a. dadurch, dass die Anstaltsleitung die Haftbedingungen eigenmächtig lockerte. Als Konsequenz wurde die stellvertretende Leiterin der JVA versetzt, der Attentäter in die JVA Burg verlegt. Im September 2021 wurde bekannt, dass eine Polizeikommissarin aus Dessau-Roßlau eine Brieffreundschaft mit dem inhaftierten Attentäter pflegte und ihn für seine Taten bewunderte. Gegen die Beamtin wurde ein Disziplinarverfahren eingeleitet, sie beantragte kurz darauf selbst ihre Entlassung. Kurze Zeit später kam die Meldung, dass der Attentäter aus der JVA Burg Brieffreundschaften mit bekannten Neonazis pflegte und an den Mörder von Walter Lübcke eine Anleitung zum Waffenbau verschicken wollte.

Wie ist es möglich, dass ein verurteilter Rechtsterrorist im Gefängnis Kontakt zu Neonazis aufrecht erhalten und Anleitungen zum Waffenbau anfertigen kann? Wie ist es möglich, dass er unbehelligt eine eigene Schusswaffe bauen, eine Geiselnahme durchführen und einen weiteren Fluchtversuch unternehmen kann? Welche Sicherheitsvorkehrungen wurden missachtet? Wer hat ihn möglicherweise bei diesen Vorhaben unterstützt? Die Umstände der vorherigen Ausbruchsversuche und die Geiselnahme haben Angehörige der Ermordeten und viele Überlebende erneut zutiefst verunsichert und die erfahrenen Traumata reaktiviert: „​Wer versagt hat, muss dazu stehen. Die Tat in Halle und Wiedersdorf hat ganz Deutschland gezeigt, wie schwach die Sicherheit ist. In den viereinhalb Jahren hätten die Justizbehörden viel verändern können. Für mich persönlich ist es wieder eine große Schande und Enttäuschung, ich habe noch mehr Misstrauen in die deutschen Behörden“, sagt İsmet Tekin, Überlebender des Anschlags und damals Nebenkläger im Verfahren gegen den Attentäter.

Das Misstrauen in Polizei und Justiz wurde weiter verstärkt, zum Teil sehen sich Überlebende in ihren eigenen negativen Erfahrungen bestätigt. Auch ein JVA-Beamter, einer der beiden Geiseln und Nebenkläger im bevorstehenden Gerichtsprozess, berichtete in einem Interview, dass er sich von seinem Arbeitgeber, dem Land Sachsen-Anhalt, nach der Tat nicht ernst genommen und mit den Folgen allein gelassen gefühlt hat. Naomi Henkel-Gümbel, Überlebende des Anschlags und damalige Nebenklägerin fordert mit Blick auf das anstehende Gerichtsverfahren: „​Es ist an der Zeit, die tief verwurzelten Kontiuitäten strukturellen Behördenversagens aufzuarbeiten. Nur so können wir eine Gesellschaft schaffen, die wachsam gegenüber menschenfeindlichen Ideologien ist und die Perspektiven der Betroffenen ernst nimmt. In Gedenken an Jana L., Kevin Schwarze und alle Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt.“

Für Nachfragen wenden Sie sich gern an:
Soligruppe 9. Oktober und TEKİEZ – Raum des Erinnerns und der Solidarität
Alma Roggenbuck 0151 5185 1872 oder Rachel Spicker 0151 4206 2293