VBRG e.V., 12.09.2025
Das reale Ausmaß rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalttaten wird durch das Bundeskriminalamt und die Landeskriminalämter nur unvollständig und uneinheitlich erfasst. Das zeigt eine aktuelle Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine Kleine Anfrage zur politisch motivierten Kriminalität rechts (PMK-rechts) der Bundestagsabgeordneten Clara Bünger (Die Linke)1. Ein Vergleich mit dem Monitoring unabhängigen Opferberatungsstellen verdeutlicht in der Mehrzahl der Bundesländer dramatische Abweichungen. Die Bundesländer mit den höchsten Fallzahlen rechter Gewalttaten pro 100.000 Einwohner:innen im Monitoring der Opferberatungsstellen2 sind nur teilweise identisch mit den Bundesländern, die das BKA als die fünf Spitzenreiter unter 16 Bundesländern ausweist: Berlin (Reach Out & RIAS Berlin: 9,99 / BKA 2,42), Hamburg (empower: 9,5 / BKA: 6,24), Sachsen-Anhalt (Mobile Opferberatung: 8,3 / BKA: 4,96), Mecklenburg-Vorpommern (LOBBI 6,59 / BKA: 7,2 , Brandenburg (Opferperspektive: 5,99 / BKA: 4,42 ), Thüringen (ezra: 5,82 / BKA: 6,3) und Sachsen (RAA SUPPORT: 5,25 /BKA 3,06).
In Hinblick auf die Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt im Jahr 2026 befürchten die Opferberatungsstellen einen weiteren Anstieg des ohnehin extrem hohen Niveaus rechter Gewalt und eine Ausweitung der Gefahrenzonen. Denn die Erfahrungen aus Brandenburg, Thüringen und Sachsen zeigen: In Bundesländern mit hohen Zustimmungswerten für rechtsextreme Parteien wie die AfD haben rechte Angriffe während des Wahlkampfs 2024–etwa auf Kandidat:innen demokratischer Parteien, demokratisch Engagierte und migrantisierte Betroffene und Geflüchtete – erheblich zugenommen.
In der Auswertung der Angriffszahlen wird auch deutlich: Damit das reale Ausmaß rechter Gewalt und zeitnah Unterstützungsangebote bekannt werden, braucht es in allen Bundesländern regelmäßige Austauschformate zwischen Ermittlungsbehörden und Opferberatungsstellen. In Thüringen beispielsweise, sagt Franz Zobel von ezra, „ist das Ausmaß rechter Gewalt noch massiver als bislang von ezra registriert.“ Im unabhängigen Monitoring hatte die Opferberatungsstelle bereits 206 rechte Gewalttaten registriert – nun kommen aus der BKA-Fallliste 79 weitere Verdachtsfälle hinzu. „Dabei gilt es zu beachten, dass eine erhebliche Zahl rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalttaten von den Behörden nicht als PMK-rechts- eingestuft werden,“ betont Franz Zobel und warnt: „Rechte Gewalt entwickelt sich im Freistaat Thüringen zu einem Massenphänomen.“
Rechte Gewalt ist ein bundesweites Problem: Fallbeispiele aus dem Monitoring der Opferberatungsstellen zeigen die Lücken
Mit Ausnahme von Hamburg ist die Diskrepanz zwischen dem Monitoring der Opferberatungsstellen und den BKA-Zahlen in den westdeutschen Flächenländern und Stadtstaaten besonders gravierend und verweist auf ein dramatisches Ausmaß von Untererfassung. Das Monitoring der Beratungsstellen macht deutlich: Rechte, rassistische und antisemitische Gewalt betrifft alle Bundesländer.
- Nordrhein-Westfalen: „Während das BKA für NRW lediglich 154 rechte Gewalttaten zählt, haben die Opferberatung Rheinland (OBR) und BackUp NRW in 2024 mehr als 294 Gewalttaten dokumentiert – darunter drei Tötungsdelikte, vier versuchte Tötungen und zwölf Brandanschläge. „Dass diese Realität in den offiziellen Statistiken nicht auftaucht, zeigt, wie groß die Lücke in der Erfassung rechter Gewalt ist“, kritisiert Fabian Reeker von der OBR. So fehlen in den Polizeistatistiken beispielsweise der tödliche rassistische Brandanschlag im März 2024 in Solingen oder der Angriff eines AfD-Delegierten und Kommunalpolitikers aus einen Gegendemonstranten beim AfD-Parteitag in Essen durch einen Biss in die Wade (Juni 2024). „Wenn immer wieder zur Anzeige gebrachte Gewalttaten, in denen eindeutige Hinweise auf ein rechtes Tatmotiv vorliegen, nicht in die Polizei-Statistiken aufgenommen werden, dann ist das mehr als ein bloßes Erfassungsdefizit. Für die Betroffenen bedeutet es Unsichtbarkeit und Entwertung ihrer Erfahrungen“, sagte Fabian Reeker von der Opferberatung Rheinland.
- Bayern: Die Beratungsstelle B.U.D. kritisiert, dass mindestens 45 zur Anzeige gebrachte Gewalttaten mit rechtem oder rassistischem Tatmotiv in der Polizei-Statistik fehlen. In Nürnberg (Bayern) beispielsweise wurde ein junger Mann homofeindlich beleidigt und mit einem Messer verletzt. Trotz klarer Hinweise auf ein queerfeindliches Motiv wird der Angriff in der Statistik nicht als rechte Gewalt erfasst.
- Mecklenburg-Vorpommern (Beratungsstelle LOBBI): „Rechte Gewalt und rassistischer Alltag werden unsichtbar gemacht, wenn die Pressestellen der Polizei sie verschweigen. Wir haben noch immer nicht den Eindruck, dass auf der untersten Ebene der Ermittlungsbehörden die Aufnahme von Anhaltspunkten für ein rassistisches Tatmotiv zuverlässig erfolgt.“
- Hamburg (Beratungsstelle empower): „Die Anzahl der rechten Körperverletzungen hat sich 2024 in Hamburg verdoppelt. Diese Taten sind Botschaftstaten, die Verunsicherung und Bedrohung verbreiten. Das tatsächliche Ausmaß wird durch die offizielle Statistik nur unzureichend abgebildet.“
„Die Diskrepanz zwischen offiziellen Zahlen und unserer unabhängigen Dokumentation zeigt: Das reale Ausmaß rechter Gewalt ist weitaus größer als bislang erfasst. Für Betroffene hat das unmittelbare Folgen für ihr Sicherheitsgefühl – und für die gesamte Gesellschaft bedeutet es, dass Bedrohungen nicht in ihrem vollen Umfang sichtbar werden“, betonen die Opferberatungsstellen im VBRG e.V. Die Aufschlüsselung von rechten Gewalttaten pro Bundesland pro 100.000 Einwohner:innen durch das BKA sollte Routine sein und nicht auf parlamentarische Nachfragen beruhen müssen. Die Opferberatungsstellen veröffentlichen diese schon seit mehreren Jahren, um das Ausmaß rechter Gewalt sichtbar zu machen.
Die Statistiken der Opferberatungsstellen aus den Jahren 2024 und 2023 finden Sie hier:
- 2024: https://verband-brg.de/rechte-rassistische-und-antisemitische-gewalt-in-deutschland-2024-jahresbilanzen-der-opferberatungsstellen/
- 2023: https://verband-brg.de/rechte-rassistische-und-antisemitische-gewalt-in-deutschland-2023-jahresbilanzen-der-opferberatungsstellen/
Kontakt
VBRG e.V. – Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt e.V.
Web: www.verband-brg.de
E-Mail: info@verband-brg.de
Tel. 030 – 33859577
Download: PDF – Pressemitteilung: Unvollständige Erfassung verschleiert Ausmaß rechter Gewalt