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10-Jahre-MOB
Der folgende Text ist der Jubiläumsbroschüre entnommen.

Eine gemischte Bilanz:
10 Jahre Mobile Opferberatung

Nach zehn Jahren erfolgreicher Beratungsarbeit fällt die Zwischenbilanz notwendigerweise zwiespältig aus.

Über tausend Beratungsverhältnisse, erfolgreich bewältigte Traumata und veränderte Lebensperspektiven; mehr als fünfzig Veranstaltungen mit der preisgekrönten »Infotour: Die Mobile Opferberatung vor Ort«, zwei große überregionale Fachkonferenzen, ein halbes Dutzend Fachpublikationen, über dreißig Ausgaben der »informationen«: Trotz erfolgreicher Beratungs- und Öffentlichkeitsarbeit in den letzten zehn Jahren - unter immer wieder schwierigen politischen Rahmenbedingungen und mit dünner Personaldecke - fällt eine Zwischenbilanz notwendigerweise zwiespältig aus. Denn der Umgang mit den Betroffenen rechter Gewalt ist immer auch ein Spiegelbild davon, wie eine Gesellschaft und die politisch Verantwortlichen mit Minderheiten umgehen. Hier waren und sind die Betroffenen sowie das Projekt mit wellenförmigen Aufmerksamkeits-, Skandalisierungs-, Normalisierungs- und Gewöhnungsspiralen im politischen und medialen Diskurs konfrontiert. Derzeit sind es eher wenige Journalist_innen regionaler und überregionaler Medien, die - oft im Austausch mit der Mobilen Opferberatung - dafür sorgen, dass rechte Gewalt und die Perspektive der Betroffenen überhaupt noch öffentlich auftauchen.

Hinzu kommt eine erhebliche Verschiebung im politischen Diskurs: Der Beginn der Opferberatungsprojekte in den fünf neuen Bundesländern und Berlin markierte 2001 auch einen Paradigmenwechsel: weg von der Täterzentrierung zugunsten des Empowerments von Minderheiten und Zivilgesellschaft. Zehn Jahre später jedoch ist die Auseinandersetzung mit der extremen Rechten einem diffusen »Extremismusdiskurs« gewichen, der im Zweifel vor Ort antifaschistisch Engagierte als »Linksextremisten« diffamiert. Gegenläufig zur bundespolitischen Entwicklung und positiv ist dagegen die Unterstützung, die die Mobile Opferberatung durch die jeweiligen Landesregierungen in Sachsen-Anhalt erfährt.

Noch immer eine Frage der Wahrnehmung

Seit 2001 ereigneten sich in Sachsen-Anhalt mehr als 1.200 politisch rechts motivierte Gewalttaten - darunter mindestens fünf einschlägige Tötungsdelikte. Auch nach den Zahlen der Sicherheitsbehörden nimmt Sachsen-Anhalt seit 2006 im Vergleich der Bundesländer eine Spitzenposition ein. Ein konstanter Faktor in der Arbeit ist die oft zähe Auseinandersetzung mit Polizei und Justiz um die Wahrnehmung rechter Tatmotive und Hintergründe geblieben. Dabei gehört zu den oft wiederholten Binsenweisheiten aus Forschung und Praxis, dass mangelnde Strafverfolgung und juristische Aufarbeitung die Täter_innen ermutigt und die Betroffenen sowie deren Umfeld weiter marginalisiert.

Auch wenn seit 2001 mit der Reform der Erfassungskriterien für politisch motivierte Kriminalität (PMK) die Sensibilität für deren Anwendung in den Führungsebenen der Sicherheitsbehörden zugenommen hat, ist die Vermittlung an der polizeilichen Basis mancherorts noch immer nicht gelungen. Dies gilt auch für die Qualität polizeilicher Einsätze nach rechten und rassistischen Gewalttaten. Erinnert sei hier nur an die zahlreichen Fälle polizeilichen Fehlverhaltens im Kontext rechter Gewalt - wie beispielsweise beim Angriff auf das Ensemble des Nordharzer Städtebundtheaters in 2007 in Halberstadt.

Je inkonsequenter eine Strafverfolgung betrieben wird, desto mehr sinkt zudem die Bereitschaft der Betroffenen, neue Gewalttaten zur Anzeige zu bringen. Zwar sorgte und sorgt die damit oft einhergehende Ignoranz und Überheblichkeit, mit der Richter_innen und Staatsanwält_innen eindeutige Hinweise auf rechte und rassistische Motive für die Angriffe als »Auseinandersetzung unter verfeindeten Jugendgruppen« oder »Kneipenschlägerei« abtaten, sowohl überregional als auch vor Ort für massive Kritik und Empörung. Doch sobald das öffentliche Interesse erlahmt, geht noch allzu oft alles weiter wie gehabt. Zu den Schwierigkeiten gehören auch die langen Instanzenwege: herausragend ist hier sicherlich die juristische Aufarbeitung eines Angriffs auf das Café des soziokulturellen Zentrums Reichenstraße in Quedlinburg im Juni 2005 mit mehreren Verletzten. Eine letztinstanzliche Verurteilung des Haupttäters erfolgte fünf Jahre nach der Tat.

Gesellschaftliche Solidarisierung

Öffentliche Solidarisierung mit den Opfern setzt den Tätern Grenzen, lautet eine zentrale Botschaft der Opferberatung. Zahlreiche Beispiele aus den vergangenen zehn Jahren zeigen, dass es durchaus möglich ist, für einen bestimmten Zeitraum unterschiedliche gesellschaftliche Akteur_innen vor Ort zu sensibilisieren und zu aktivieren. Sei es für Prozessbegleitungen, Spendenaktionen, konkrete Hilfsangebote oder kurzfristige Interventionen. Oft jedoch fehlt es an personellen, finanziellen und infrastrukturellen Ressourcen, um dieses Engagement langfristig abzusichern und beispielsweise eine nicht-rechte und alternative Jugendkultur nachhaltig zu fördern. Schwierig bleibt es zudem in denjenigen ländlichen Regionen, in denen staatliche geförderte Initiativen und Projekte zivilgesellschaftliches Engagement mangels Vorhandensein anderer Strukturen oder engagierter Einzelpersonen quasi mitsimulieren müssen. Und unklar ist, was in den Regionen geschehen wird, in denen zivilgesellschaftliche Initiativen und Bündnisse mit ihrem Engagement zwar Veränderungen erreicht haben, dieses aber ohne Unterstützung von Außen nicht aufrecht erhalten können.

Restriktive gesetzliche Bestimmungen beschneiden zudem die Spielräume bei der Unterstützung von Betroffenen rassistischer Gewalt erheblich. Besonders dramatisch ist die Situation von langjährig geduldeten Flüchtlingen, die über viele Jahre ein Leben in Perspektivlosigkeit führen. Es ist diese Betroffenengruppe, bei denen die Mobilen Opferberatung, die im Verbund mit den anderen Opferberatungsprojekten in den neuen Bundesländern und Berlin schon früh eine Kampagne »Bleiberecht für Opfer rassistischer Gewalt« initiiert hatte, gemeinsam mit Partner_innen vor Ort nur in Einzelfällen reale Erfolge vorweisen kann.

Ein herausragendes Beispiel für einen lokalen und überregionalen Solidarisierungsprozess ist sicherlich die Kampagne für ein Bleiberecht von Aliou D. gewesen, der im Mai 2008 Opfer eines rassistischen Angriffs in Burg wurde. Dass er nicht abgeschoben wurde, sondern inzwischen mit einem festen Aufenthalt zum ersten Mal seit Jahren ein selbstbestimmtes Leben führen kann, ist nur dem Zusammenspiel vieler Menschen aus ganz unterschiedlichen Bereichen - inklusive der Landesregierung - zu verdanken. Vor dem Hintergrund, dass Aliou D. eben kein Einzelfall ist, erscheint es umso notwendiger, dass eine Bleiberechtsregelung für Opfer rassistischer Gewalt auf die politische Tagesordnung gesetzt wird.

Perspektiven

Zehn Jahre nach Projektbeginn ist vor allem eines deutlich: Ein Ende der rechten und rassistischen Gewalt ist nicht in Sicht. Und der Bedarf an Beratung und Unterstützung steigt weiter an, wie auch aus den zahlreichen Unterstützungsanfragen aus den westlichen Bundesländern deutlich wird. Entsprechend notwendig ist es, die Opferberatungsprojekte ebenso wie die Mobilen Beratungsteams endlich als dauerhafte Beratungsstrukturen zu fördern. Denn ansonsten steht die Arbeit aller Beratungsprojekte nach dem Ende des derzeitigen Bundesprogramms in 2013 erneut in Frage. Für die Mobile Opferberatung bedeutet das vor allem: Intensiver denn je dafür zu arbeiten, dass die Perspektive der Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt gehört und ernst genommen wird.

Das Team der Mobilen Opferberatung

Broschüre: 10 Jahre MOB

Auf 40 Seiten bietet die Jubiläumsbroschüre der Mobilen Opferberatung einen spannenden und lesenswerten Überblick: Texte über die Beratungsstandards und -praxis laden ebenso zum Lesen und Diskutieren ein wie Berichte aus der Praxis der Berater_innen und eine Bilanz des Projekts.

Broschüre: download [pdf]

Darüber hinaus bietet die Broschüre interdisziplinäre Einblicke rings um die Themenfelder Rassismus, extrem rechte Einstellungspotenziale, Polizei und Justiz, professionelle Opferberatung und die Auswirkungen des zweiten Opferrechtsreformgesetzes in der Praxis.

Der Pädagoge Prof. Dr. Paul Mecherill erklärt in seinem Beitrag "Rassismus? Vier Fragen und einige Antworten", warum es wichtig ist, Rassismus beim Namen zu nennen.

Der Politikwissenschaftler Dr. Dierk Borstel analysiert in seinem Beitrag "Eng verbunden: Abwertung und Gewalt", wie Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit als Ein- stellungsmuster in der gesellschaftlichen Mitte politisch rechts motivierte Gewalt legitimiert und ermöglicht.

Der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Roland Roth setzt sich mit den verdeckten Zustimmungsmustern fÜr rechte Gewalt und der besonderen Rolle von Polizei und Justiz auseinander.

In einem Interview erklärt die Therapeutin Elise Bittenbinder die Folgen traumatischer Erlebnisse und Faktoren fÜr deren Verarbeitung.

Rechtsanwalt Sebastian Scharmer zieht in seinem Beitrag "Opferschutz bleibt Auslegungssache" eine kritische Bilanz zur Wirkung des zweiten Opferrechtsreformgesetzes in 2009.

Und Prof. Dr. Jutta Hartmann beschreibt in ihrem Text "Zur Relevanz professioneller Opferhilfe" zentrale Kriterien professioneller Opferhilfe.

Außerdem finden sich in der Broschüre ausgewählte Beispiele aus der Chronik rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt seit 2001 sowie Fotos von Tatorten.

Jetzt Broschüre download oder bestellen gegen Porto unter: opferberatung.sued@miteinander-ev.de